Auf Erichs Spuren durch Bischofswerda
Vorwärts immer, rückwärts nimmer – zu erleben in diesem Jahr bei den Mitternachtsspitzen.
Bischofswerda. Dreck gibt es immer. Damals war es Braunkohlestaub, der sich auf die Fenster legte, heute Feinstaub. Früher war es besser. Da hatte man den Dreck, den es wegzuputzen galt, wenigstens gesehen. Man hat ihn gerochen. Aber eins ist gleich geblieben: Damals wie heute gab und gibt es was zu putzen. Deshalb reinigte die Putzperle die Post, heute das Rathaus. Ein bisschen trauert die Putzperle, wie Christine Bär ihre Rolle nennt, immer noch den alten Zeiten nach. An diesem Sonnabend bei der Auftaktveranstaltung der Mitternachtsspitzen wird sie Neugierige durch Bischofswerda führen. Getreu Erich Honeckers Klassiker: Vorwärts immer, rückwärts nimmer“.
Dederon-Kittel mit den orangefarbenen Blüten
Christine Bärs lilafarbener Dederon-Kittel mit den orangefarbenen Blüten darauf weht im Wind, als sie über den Bischofswerdaer Marktplatz läuft. Das waren noch Zeiten, als sie solche Kittel jeden Tag tragen konnte – so furchtbar unkompliziert! „Damals, abends zu Hause, war das immer das Erste, was alle gemacht haben: Sachen ausziehen, Kittelschürze anziehen“, erinnert sich die 65-Jährige. Mit seinen schweren Stiefeln schlurft Falco Birke hinter ihr her. So richtig stramm steht dieser vermeintliche NVA-Soldat nicht. Ein paar Blicke ziehen sie auf sich, doch nicht sonderlich viele Passanten gucken irritiert, als die Putzperle, der Soldat, ein Volkspolizist und eine FDJlerin über den Altmarkt spazieren. Die Putzperle war lange weg und ist nun endlich wieder in ihrem geliebten Osten. Den wird sie gemeinsam mit den Gästen der besonderen Stadtführung erkunden.
Damals war alles einfacher.
Viel hat sich hier verändert! Wer hat denn bloß all die Hinterhöfe saniert? Was ist nur aus Ordnung und Respekt geworden? Gut, der Markt war damals vielleicht nicht so schön – aber trotzdem. Die Putzperle kann es nicht fassen. Damals war alles einfacher. Wer braucht denn schon 20 Sorten Waschpulver? Früher, da gab es das nicht. Damals, da war einkaufen noch entspannt. Wo es nichts gab, war man froh über das, was man bekam.
Und wer braucht eigentlich diese komische Elektrotankstelle? Die nutzt doch kein Mensch und auch kein Auto, sagt Putzperle Christine Bär. Damals wusste man, welchen Wagen man kaufen will, wenn man ihn denn bekam. Heute kann man gar nicht schnell genug gucken, da sind die Autos wieder aus der Mode, kriegen Fahrverbote oder fallen durch den TüV. Auch das Fernsehen war früher so viel einfacher. Es bot nur zwei Programme – reicht doch.
DDR-Typisches auf dem Plastetablett
Christine Bär freut sich darauf, auch mal wieder auf etwas Richtiges zu essen. Ohne Vegan-, Bio- oder Zuckerfrei-Aufdruck. Zum Glück wird an diesem Abend zünftiges, DDR-Typisches auf dem Plastetablett serviert. Zwar kommt das gute Mitropa-Geschirr nicht zum Einsatz. Die Teilnehmer der Stadtführung dürfen sich aber nicht nur auf Fettbemme, Soljanka und grüne Wiese freuen – so viel sei verraten. Ach, und ein kleiner Hinweis: Packen Sie besser alle wichtigen Dokumente ein, erwähnen Sie nicht den Ausreiseantrag und achten Sie auf Wanzen. Um sich auf den Abend vorzubereiten, haben die Engagierten beim Kleiderfundus zusammen ein DDR-Museum besucht. „Das war toll“, findet Christine Bär. „Da kamen Erinnerungen hoch. Das Größte war der Rechenschieber“, erinnert sie sich. Sie bewegt ihren Finger in der Luft von rechts nach links, als würde sie eine Matheaufgabe lösen. „Leider wusste ich nicht mehr genau, wie er funktioniert.“ – Der 18-jährige Falco Birke hat selber zwar keine Erinnerungen an diese Zeit, konnte im Museum aber die Erzählungen seiner Großeltern nachempfinden. Auch die NVA-Uniform hat er von seinem Opa bekommen. „Wenn er von früher erzählt, dann nur Positives“, erklärt er.
Christine Bär erfuhr erst spät vom Mauerfall: „Ich habe das erst am nächsten Tag in der Zeitung gelesen“, erinnert sie sich. „Jeder wollte für die 100 D-Mark rüber.“ Sie selber war damals in der SED. Drüben habe ich dann den Parteisekretär getroffen.
Trotz der vielen Ostalgie-Gefühle freut sich Christine Bär aber schon darauf, den Kittel wieder auszuziehen. Denn so richtig bequem ist der Dederonstoff nicht. Auf der Haut fühlt er sich komisch an und irgendwie schwitzt man darunter so sehr. Und vielleicht, nur ganz vielleicht, war früher ja doch nicht alles besser.
Quelle: https://www.sz-online.de/nachrichten/auf-erichs-spuren-durch-bischofswerda-3894800.html
Eintrittskarte 10. Mitternachtsspitze am 01.06.2018
Die Karten sind vom Umtausch ausgeschlossen.